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REZENSIONEN
Anneliese Erdemgil-Brandstätter, DPGKP
Koordination/Seminarleitung
Schulungssprojekt „Häusliche und sexualisierte Gewalt. Die Bedeutung des Gesundheitswesens“ (März 2019)
Wenn Timo Abus und seine Psychotherapeutin Claudia Schennach die Psychotherapie als einen Ort der Verschwiegenheit verlassen, dann haben sie eine ungewöhnliche, mutige und begründbare Entscheidung getroffen. Eine persönliche Entscheidung mit politischer Kraft, weil sie die Enttabuisierung körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt im sozialen Nahraum und in öffentlichen Einrichtungen zum Ziel hat. Timo Abus konnte die belastenden Schuld- und Schamgefühle und somit auch sein Schweigen in einer vertrauensvollen und tragfähigen Arbeitsbeziehung thematisieren und überwinden. In seinen vielfältigen, auch künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten „bespricht“ er die ihm widerfahrenen Formen von Gewalt und die gesundheitlichen und sozialen Langzeitfolgen ebenso wie die große Mühe um Aufarbeitung des Erlebten. Es ist die öffentliche „Reise“ eines (Über-)Lebenden, begleitet von den fachlich erklärenden und wertschätzenden Kommentaren seiner Psychotherapeutin, die die Leserinnen und Leser in die Wirklichkeiten schwerer früher Verletzungen und Traumatisierungen führt. Wie prägend für die Entwicklung, ja für das gesamte Sein die Kumulierung von Gewalt, Ungeschütztheit, Verlassensein, Schuld- und Schamgefühle, Angst, Wut und Ekel, Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertheit sowie fehlende Nähe und der tiefe Wunsch nach Schutz, Geborgenheit und Liebe sind, werden durch die Gestaltungsvielfalt des Buchs spürbar. Mit der Aussage „Hört mich denn keiner?“ wird zu Recht die Verantwortung der gesamten Gesellschaft angesprochen. Die Verantwortung liegt in der Enttabuisierung, in der Früherkennung, in dem Betroffenen zu glauben, ihnen zuzuhören, Schutz und Sicherheit herzustellen und alle Maßnahmen zu ergreifen, Gewalt zu beenden. Im Sinn der Hilfestellung stärkt das vorliegende Buch Klientinnen und Klienten ebenso wie psychotherapeutisch Tätige, sich auf den durchaus auch kreativen Prozess der Traumabewältigung einzulassen. Ein umfassendes Wissen zu den gesellschaftlichen Risikogruppen, Formen und Dynamiken von Gewalt, den gesundheitlichen Akut- und Langzeitfolgen sowie die Verbindung von Gewalt und Trauma ist dabei unabdingbar.